Führt der Versicherungsnehmer (VN) den Versicherungsfall grob fahrlässig herbei, ist der Versicherer (VR) nach § 81 Abs.2 VVG berechtigt, seine Leistung in einem der Schwere des Verschuldens des VN entsprechenden Verhältnis zu kürzen.
Bislang unklar und heftig umstritten war, ob in Fällen besonders grobfahrlässigen Herbeiführens eine vollständige Leistungsfreiheit des Versicherers erfolgen könne.
Der Bundesgerichtshof hatte dazu in seinem Urteil vom 22. Juni 2011 (IV ZR 225/10) ausgeführt, dass bei grober Fahrlässigkeit des Versicherungsnehmers in besonderen Ausnahmefällen eine Kürzung der Versicherungsleistungen „auf null“ gemäß § 81 Abs. 2 VVG durchaus möglich sei.
Der Entscheidung lag der Sachverhalt zugrunde, dass ein Versicherungsnehmer (VN) mit dem versicherten Fahrzeug außerorts in einer Kurve nach links von der Fahrbahn angekommen und gegen einen Laternenpfahl geprallt ist, wodurch erheblicher Sachschaden auch am eigenen Fahrzeug entstanden ist. Eine zeitnah durchgeführte Blutentnahme ergab eine BAK von 2,70 Promille.
Der BGH stellte hierbei unter Zurückverweisung zur weiteren Sachaufklärung klar, dass in besonderen Ausnahmefällen auch eine Reduzierung der Versicherungsleistungen auf null denkbar sei und beendete damit einen intensiv ausgetragenen Meinungsstreit zu dieser Frage. Einschränkend stellte er fest, dass eine Reduzierung auf null dann in Betracht käme, „wenn der Schweregrad der groben Fahrlässigkeit sich dem Vorsatz annähert, so dass eine Leistungskürzung auf null gerechtfertigt ist“ und verwies allgemein auf Fälle, „im Grenzgebiet zwischen grober Fahrlässigkeit und bedingtem Vorsatz“.
Einen solchen Ausnahmefall hat nun das OLG Hamm in seinem Urteil vom 27.04.2012 (20 U 144/11) bei seiner Entscheidung über folgenden Sachverhalt gesehen:
Der VN einer Leitungswasserversicherung hatte über einen längeren Zeitraum und trotz winterlicher Temperaturen keinerlei Sicherungsmaßnahmen gegenüber dem Einfrieren der Leitungen ergriffen. Er hatte in dem schon längere Zeit leerstehenden Gebäude die Leitungen weder entleert noch abgesperrt. Ebensowenig hatte er in dem Kellerraum, in welchem sich die Leitungen befanden, für eine Heizung zur Gewährleistung der Frostfreiheit noch irgendwelche Isoliermaßnahmen vorgenommen. Nach Schadenseintritt verweigerte der Versicherte jegliche Zahlung mit Hinweis auf das grob fahrlässige Herbeiführen des Versicherungsfalls.
Aus der Sicht des mit dieser Sache im Berufungsverfahren befassten OLG Hamm handelt es sich um einen besonders eklatanten Fall, weil der VN für längere Zeit jegliche Sicherungsmaßnahmen unterlassen und deshalb das Erforderliche in besonders hohem Maße missachtet hat. Unter diesen Umständen sei ein Leitungswasserschaden unter winterlichen Temperaturen nicht nur möglich, sondern wahrscheinlich. Der Grad grober Fahrlässigkeit konnte deshalb nur als außergewöhnlich und einem Vorsatz praktisch gleichgestellt werden. Auch in subjektiver Hinsicht waren keinerlei Gesichtspunkte vorgetragen worden oder sonst ersichtlich, die den Sorgfaltsverstoß des VN in einem milderen Licht hätten erscheinen lassen.
Was folgt daraus für die Praxis?
Der Abgrenzung von grober und einfacher Fahrlässigkeit kommt nach der Reform des VVG und nach obigen Urteilen eine weitreichende Bedeutung zu.
Versicherer könnten geneigt sein, Sachverhalte, die noch im Grenzbereich zwischen einfacher und grober Fahrlässigkeit angesiedelt sind, als in besonderem Maße grobfahrlässig zu bewerten und eine Anspruchstellung mit Hinweis auf die obigen Urteile zurück zu weisen.
Jeder VN, dem vom VR in der Regulierungsphase vorgeworfen wird, durch grob fahrlässiges Verhalten den Versicherungsfall herbeigeführt zu haben, sollte darauf achten, dass die Umstände des Einzelfalls zutreffend abgewogen werden, insbesondere Gesichtspunkte berücksichtigt werden, die das Verhalten des VN in einem milderen Licht erscheinen lassen. Bestehen Zweifel an der Wertung des VR, sollte der VN darauf verweisen, dass ein Leistungskürzungsrecht insgesamt nicht gegeben sei, da nicht grob fahrlässiges Herbeiführen, sondern nur ein Fall einfacher Fahrlässigkeit vorliege.